Die Orgeln von St. Marien in Lemgo

Gleich zwei große Orgeln erwarten den Besucher. Die historische Schwalbennestorgel geht in ihrem Ursprung auf die Jahre 1587 und 1612/13 zurück. Die sinfonische Neue Orgel entstand 1975.

Harald Vogel

Die Renaissance-Orgel in St. Marien zu Lemgo

Die Schwalbennest-Orgel in St. Marien zu Lemgo ist die einzige Orgelanlage dieser Art aus der Zeit vor dem 30jährigen Krieg in Deutschland, die äußerlich gut erhalten ist und sich noch am ursprünglichen Aufstellungsort befindet. Auf die erste Bauphase geht das Hauptgehäuse zurück, das von der Orgelbauerfamilie Slegel aus den Niederlanden in den Jahren 1586 bis 1595 erbaut wurde. Die kunstvolle Empore mit den beiden seitlichen Gehäusen für das Pedalwerk und die Prospekt-pfeifen im Hauptgehäuse wurden von der Orgelbauerfamilie Scherer aus Hamburg 1612-13 hergestellt. Besonders wertvoll sind die originalen Prospektpfeifen, die zum Teil noch eine unveränderte Klanggebung (Intonation) aufweisen. Die originalen Springladen aus dem 17. Jahrhundert im Hauptwerk und Pedal sind die ältesten bekannten Beispiele für die aufwändige Konstruktion mit herausnehmbaren Kanzellendeckstücken, die im westfälischen Orgelbau bis weit in das 18. Jahrhundert gebaut wurden und der Orgellandschaft Westfalen eine eigenständige Prägung gegeben haben.

Die Spuren am Instrument und Vergleiche zu erhaltenen Renaissance-Orgeln in den Niederlanden und Norddeutschland haben eine Rekonstruktion möglich gemacht, die dem legendären Ruf dieser Orgel, die sie seit ihrer Entdeckung in den 20er Jahren des 20. Jahrhundert als „Renaissance-Orgel“ hatte, gerecht wird. Die Schwalbennest-Orgel in St. Marien zu Lemgo ist gegenwärtig das einzige Orgelinstrument im niederländisch-norddeutschen Stil der Spätrenaissance, in dem die klanglichen Ressourcen für das Orgelrepertoire des überragenden niederländischen Meisters aus der Zeit um 1600, Jan Pieterszoon Sweelinck, und seiner norddeutschen Schüler ohne stilistische Kompromisse zur Verfügung stehen. Dazu gehören die ursprünglichen Klaviaturumfänge mit der kurzen Oktave im Bass und die terzenreine mitteltönige Stimmung. Die vorzügliche Akustik in der Marienkirche ist eine weitere günstige Komponente, durch die ein angemessenes Verhältnis von Raum und Klang erlebt werden kann.

Die Schwalbennestorgel im aktuellen rekonstruierten Zustand

Die Disposition enthält alle Register mit den Klangfarben, die für die Darstellung des frühen niederländischen und norddeutschen Orgelrepertoires erforderlich sind. Auf kleinstem Raum sind hier die beiden Windladen für die Manualwerke im Hauptgehäuse und die beiden seitlichen Pedal-werke untergebracht. Die Marienkirche in Lemgo wird zum Zentrum für die Wiederentdeckung der authentischen Klanggestalt eines wichtigen europäischen Orgelstils werden können, der in den zurückliegenden Jahrzehnten weltweit eine immer größere Beachtung gefunden hat.

Dem Orgelbauer Rowan West und dem Organologen Koos van de Linde ist mit dieser Rekonstruktion eine wegweisende Arbeit gelungen, durch die eine verlorene Klangwelt wieder zum Bestandteil der globalen Orgelkultur wird und gleichzeitig als Modell für Nachbauten dienen kann. Damit ist ein kreativer Ansatz verwirklicht worden, der den Aktualitätscharakter des musikalischen Stils aus der Renaissance- und Frühbarockzeit in unserem heutigen Musikleben repräsentiert.

Die Schwalbennest-Orgel in St. Marien zu Lemgo ist ein Instrument von europäischer Bedeutung.

Disposition

Die Disposition nach der Restaurierung durch Rowan West entspricht der Registeraufstellung, die der Organist der Nikolaikirche in Lemgo, Andreas Knoidt, 1629 aufzeichnete.

Hauptwerk:

Praestant8′C-g2 im Prospekt; fs0, g0, h0, f1, g1, a1, ds2-c3 neu, alle übrigen Pfiefen Scherer (Labienform wie Tangermünde); die originalen Doppelchöre ab f1 konnten leider nicht wiederhergestellt werden, da die Kapazität der Bohrungen und der Springventil-Öffnungen in der Springlade dazu nicht ausreichen.
Quintatien8′nach Cornelis und Michael Slegel (Kampen – Broerenkerk), mit Seitenbärten
Gedackt8′nach Hans Scherer d. J. (Tangermünde)
Octave4′nach C. und M. Slegel (Hattem, Kampen – Broerenkerk und Onze-Lieve-Vrouwekerk)
Hohlfloyte4′nach Slegel (Hattem, Kampen – Onze-Lieve-Vrouwekerk)
Mixtur 2′2-4f.s. Octave 4′
Scharff 1′3-6f.s. Octave 4′
Barpfeiff8′nach der Beschreibung von Michael Praetorius; mit Schiffchenkehlen

Oberwerk:

Praestant4′nach Tangermünde (Prospektprincipale und Principal 8′ OW); Mensur wie Praestant 8′ im Hauptwerk
Hohlpfeiff8′nach der Mensur von Hohlfloyte 4′ im Hauptwerk
Nasatt3′nach C. und M. Slegel (Hattem); C-c1 Rohrflöte (4 Halbtöne enger als Hohlpfeiff und Hohlfloyte); cs1-c2 Koppelflöte; ab cs2 zylindrisch offen
Waltpfeiff2′nach C. und M. Slegel (Hattem)
Cimbell3f.s. Octave 4′
Trumpett8′nach A. Kiespennig 1615 (Wijk bij Duurstede); mit Schnabelkehlen
Zinke8′ab f0; nach dem Zink in Appingdam (Prov. Groningen) aus der 2. Hälfte des 16. Jahrh., mit zum Ende stark in der Tiefe ablaufende parallelen Kehlen

Pedal:

Bordaunen Baß16′nach Tangermünde
Bassunen Baß16′nach Tangermünde; norddeutsche Kehlen mit Metallbelag
Trumpeten Baß8′idem
Cornet Baß2′nach Tangermünde; offene norddeutsche Kehlen
Gemshornfloyt1′nach Hans Scherer d.Ä. (Hamburg – St.Jacobi, Gemshorn 2′ OW)

Koppel HW/Pedal
Pedal kurze Oktave bis d1
Manuale kurze Oktave bis c3
Tremulant
Sperrventile für Hauptwerk und Oberwerk
4 rekonstruierte Keilbälge im Turmraum hinter der Orgel
Mitteltönige Stimmung (8 reine große Terzen)
Tonhöhe: a1 = 472 Hz bei 20°C
Winddruck: 66 mm WS


Die neue Orgel

Die neue Orgel wurde 1974/75 von der Firma Paul Ott, Göttingen auf der Westempore der Kirche erbaut.

HauptwerkSchwellwerkRückpositivPedal
Pommer16′Rohrgedackt16′Gedackt8′Prinzipal16′
Prinzipal8′Holzprinzipal8′Praestant4′Subbaß16′
Rohrflöte8′Salicional8′Rohrcopula4′Quintbaß10 2/3′
Oktave4′Schwebung8′Schwiegel2′Oktave8′
Koppelflöte4′Oktave4′Nasat1 1/3′Gedackt8′
Quinte2 2/3′Traversflöte4′Scharff3-4fOktave4′
Oktave2′Nasat2 2/3′Cromorne8′Nachthorn2′
Cornett2-3fWaldflöte2′TremulantHintersatz6f
Mixtur5-7fTerz1 3/5′Posaune16′
Trompete16′Sifflöte1′Trompete8′
Trompete8′Mixtur5-6fTremulant
TremulantBasson16′
Hautbois8′
Clairon4′
Tremulant
Koppel:Koppel:TrompetenwerkKoppel:
TrompetenwerkTrompetenwerkTrompete16′Trompetenwerk
SchwellwerkTrompete8′Schwellwerk
RückpositivTrompete4′Hauptwerk
Rückpositiv

Spielhilfen:
Heuss Setzerkombination MP 92
5000 Speicherplätze
Schweller
Walze
Sequenzer

Technik:
Spieltraktur mechanisch
Schleiflade (mit elektrischer Registratur)
Koppelanlage (elektro-magnetisch gesteuert)
Registerzüge

Tonumfang:
Manuale C-a“‘
Pedal C-g‘