Kantoreigeschichte

Am 18. Februar 1946 wurde die MarienKantorei offiziell gegründet, nachdem sich zuvor die ‘Lemgoer Musikantengilde’ dem Chor der Mariengemeinde angeschlossen hatte. Der 400. Todestag Martin Luthers war bewusst gewählt worden, hatte der Reformator doch die ‚Musica sacra’ als höchste Disziplin neben der Theologie eingestuft. Gründer und Leiter in den ersten 46 Jahren der Kantorei war Walther Schmidt (Schüler u.a. von Ernst Pepping). Für ihn bestand die „vornehmste Aufgabe einer Kantorei im Dienst der Liturgie und der Verkündigung des Wortes Gottes in den Gottesdiensten der Gemeinde“, darüber hinaus galt die Zielsetzung, „den Gemeinden den Reichtum unserer Kirchenmusik nahe zu bringen“, d. h. exemplarisch Werke aller Epochen der Chormusik wiederzugeben – auf musikalisch höchstmöglichem Niveau.

Die Kantorei hatte bald weit über die Stadt Lemgo hinaus den Ruf eines außergewöhnlichen Chores erworben, der zu Konzertreisen geradezu verpflichtete, zunächst in die nähere Umgebung von Ostwestfalen-Lippe, bald ins Rheinland und nach Süddeutschland, Fahrten, die für die meisten neue und unauslöschliche Eindrücke einer lebendigen künstlerischen und menschlichen Gemeinschaft vermittelten.

Die erste Auslandsreise ging 1953 nach Holland. Hier stand die MarienKantorei erstmals vor Rundfunkmikrophonen in Utrecht für Radio Hilversum – und das war erstaunlich angesichts der kriegsbedingten Ressentiments, die bei vielen Holländern gegenüber Deutschen noch lange vorherrschten. Hier wie auch bei späteren Chorfahrten in die Schweiz und nach Frankreich in den fünfziger Jahren erwies sich die Kantorei als ein Ensemble, das ökumenische Offenheit und Friedensarbeit miteinander verband im Sinne des oft gesungenen „Dona nobis pacem“. Viele Konzertreisen im In- und Ausland folgten. Die weiteste führte 1976 nach Nordamerika anlässlich der 200-Jahrfeiern der USA, 2005 ging’s nach Frankreich und in die Pfalz, später auch nach Österreich.

Die Zahl der Rundfunkaufnahmen und Schallplatten wuchs im Laufe der Zeit, bis im Jahre 1999 die erste CD produziert werden konnte, der dann weitere folgten, z. B. im Jahr 2005 Gottfried Heinrich Stölzel „Christmas Oratorio und Te deum“, das hier nach gut 250 Jahren zum ersten Mal wieder zu hören war, und 2007 die mit dem ECHO-Klassik ausgezeichnete Produktion Johann Caspar Ferdinand Fischer „Missa Sancti Michaelis Archangeli…“, gesungen vom Kammerchor der Marien-Kantorei und begleitet auf historischen Instrumenten vom Kammerorchester ‘Handel’s Company’, das Rainer Joh. Homburg zusammen mit Harry Hoffmann gegründet hatte.

Rainer Johannes Homburg hatte nach dem Tod von Walther Schmidt die Leitung der MarienKantorei im Jahr 1992 übernommen. Er führte die hervorragende Chorarbeit seines Vorgängers mit den ver-schiedenen Ensembles der Kantorei fort, setzte dabei jeweils eigene Akzente und behielt neue musi-kalische und geistesgeschichtliche Entwicklungen im Auge.

Der internationale Charakter der Kantoreiarbeit blieb gewahrt durch die Fortsetzung der schon 1950 begründeten „Lemgoer Internationalen Orgeltage“, die immer wieder Künstler aus dem europäischen Ausland nach Lemgo führten, gelegentlich auch das weltberühmte Hilliard-Ensemble im Oktober 2001 oder den Wisconsin Lutheran Choir im Mai 2009.

Ein Höhepunkt im Jahr 2005 war aus Anlass der 60. Wiederkehr des Endes des Zweiten Weltkriegs die Aufführung von Benjamin Brittens ‘War Requiem’ in Rheda-Wiedenbrück und Lemgo. Ganz im Sinne Brittens, der für die Uraufführung Mitwirkende aus den ehemals kriegführenden Nationen engagierte, fanden sich unter ihren jeweiligen Leitern der Städtische Musikverein und die Choral-singschule Gütersloh sowie Singschule und Singgemeinschaft der Marienkantorei Lemgo im Geist der Versöhnung mit dem Warschauer Kammerchor und Solisten aus Polen, Irland und Deutschland zusammen. Sie bildeten, begleitet von der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford, ein fast 400-köpfiges Ensemble.

Die inzwischen jährlich stattfindenden Internationalen Orgeltage prägten zunehmend die Arbeit der MarienKantorei Lemgo, z. B. mit den Schwerpunkten „Kunst.Fest.Musik“ – Interaktionen von Klang, Text und Raum (2004), „ Mozart.Digital“ (2006), Buxtehude (2007), Händel (2009). Immer wieder wurden junge Künstler einbezogen (Orgelkurse oder Gesangs-Workshops in Verbindung mit der Hochschule für Musik in Detmold). Die Orgeltage bekamen zunehmend den Status eines Festivals („lange Buxtehude-Nacht“, „Händel-Gala“, im Varus-Jahr „Hermann meets Händel“ – kammermusikalische und vom WDR aufgenommene Aufführung der Händel – Oper „Arminio“, moderiert von Herbert Feuerstein). Das alles erforderte natürlich einen größeren organisatorischen und finanziellen Aufwand: Gewinnung von Sponsoren und Donatoren, u.a. mit Hilfe eines hoch-karätig besetzten Kuratoriums, veränderte Präsentation der Kirche durch neue Lichttechnik innen und außen, Schaffung einer Zuhörer-freundlichen Atmosphäre u.a. durch ein Catering-Angebot, Professionalisierung von Werbung, Internetauftritt und Kartenverkauf, Unterstützung der MarienKantorei Lemgo durch einen eingetragenen Verein mit einem aktiven Vorstand, zuverlässige Besetzung des Kantoreibüros, Stärkung des Fördervereins.

Eine Werbung für die Kantoreiarbeit war und ist auch die inzwischen etablierte Bach-Kantaten-Werkstatt, die Profis und Laien nach gründlicher Probe zu gemeinsamem Musizieren einer Bach-Kantate im Gottesdienst zusammenführt und vielleicht Entscheidungsträger dazu anregt, diese Arbeit auch weiterhin zu fördern, und Sängerinnen und Sänger ermuntert, das Stimmbildungsangebot der Kantorei anzunehmen, auf Dauer in den Chören mitzuarbeiten und dann einmal Werke aus dem Repertoire mitzusingen wie das Requiem von Mozart oder Brahms, die Schöpfung von Haydn, Bachs Passionen oder h-Moll-Messe, Händels „Messias“ oder Michael Tippets „A Child of our Time“ …

Walther Schmidt war seinerzeit auch wegen der bedeutenden Renaissance-Orgel der Marienkirche nach Lemgo gekommen. Dieses in den vergangenen Jahrhunderten mehrfach dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend veränderte und inzwischen renovierungsbedürftige Instrument galt es Anfang des neuen Jahrtausends zu rekonstruieren, wollte man es überhaupt noch sinnvoll nutzen. Nach gründlichen Vorarbeiten konnte ein Sachverständigengremium die Arbeit 2007 aufnehmen, der Vertrag mit einer darauf spezialisierten Orgelbaufirma 2008 geschlossen und die 1595 erstmalig fertiggestellte Orgel im Rahmen der Internationalen Orgeltage 2010 als rekonstruierte Renaissance-Orgel der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Inzwischen liegt die erste Orgel-CD (J. P. Sweelinck), eingespielt von Harald Vogel und hervorragend in Surround-Technik produziert von Dabringhaus und Grimm (Detmold), vor.

Nachdem Rainer Homburg auf Grund seiner über Lemgo hinaus bekannten erfolgreichen Arbeit 2009 zum Leiter der Stuttgarter Hymnus-Chorknaben gewählt worden war, war es auch wieder die Schwalbennestorgel, die für die Bewerberinnen und Bewerber um seine Nachfolge in Lemgo eine besondere Attraktion darstellte. Die Interimszeit ab März 2010 konnte dank der Mitwirkung von Professoren der Hochschule für Musik in Detmold und engagierte Mitarbeit von Kantorei und Gemeinde sehr gut überbrückt werden. In zwei aufwändigen Bewerbungsverfahren mit jeweils über zwanzig Kandidatinnen und Kandidaten wurde Volker Jänig aus Mölln zum neuen Kantor gewählt. Er hat seine Arbeit mit großem Engagement im Januar 2011 begonnen, zunächst mit dem Schwerpunkt „Alte Musik“, angeregt durch die „Alte Orgel“, aber ebenso offen für andere Stilepochen.

Die Merkmale der Kantoreiarbeit an St. Marien bleiben auch unter seiner Leitung erhalten: auf der Basis des christlichen Glaubens der Wille zur höchsten für ein Laienensemble erreichbaren musika-lischen Leistung, eine offene, freundschaftliche und auf die Sache gerichtete lebendige Atmosphäre und immer wieder Grenzgänge zwischen verschiedenen Formen geistlicher und weltlicher Kunst, zwischen Nationen und Religionen.